Ein Sibirisches Märchen

Der Nordwind ist ein grimmiger Herr. Er bewohnt ein stattliches Anwesen weit oben in der Tundra, wo die Birken klein und geknickt sind vom Schnee und Eis, welche die meiste Zeit den Garten des hohen Herrn verzieren. Und Eisblumen wachsen da – grosse und kleine, dazwischen wirbeln Flocken wie Schmetterlinge und grasen blaue Schafe – so fein wollig wie weiche Wolken!


Schafe wollen geweidet werden – so hatte einst der Nordwind Marija damit beauftragt über seine blaue Herde zu wachen, auf dass sich keines verirre oder gar schlimmer – gestohlen würde! Ja, denn gestohlen würden sie wohl durchaus werden; raunte es nicht in den krummen Hütten und den zügigen Hurten, dass, wer aus dieser blauen Wolle von einem dieser blauen Schafe sich ein Kleidchen strickt, könne fliegen wie die Wolken und der Wind? Wem fehlten nicht schnelle Pferde, wem lahmte nicht selbst der Fuss ob des Frosts? Fliegen wie der Wind – man wäre beim Zaren am Hofe und zurück in nur einem Tage!


Eines Tages, als Marija gerade die Schafe am Schären war, da kam ein armseliges Geschwisterpaar des Weges. Ihre Kleider waren dünne Tuchfetzten, wild durcheinandergenäht und zerrissen und um ihre Füsse waren blosse Lumpen gewickelt. So schrecklich war ihnen kalt, dass sie sich eng umschlungen hielten. Es war Natascha mit ihrem kleinen Brüderchen Aljoscha.

„Gute Mariuschka“, bettelte Natascha, „gib uns doch von der weichen Wolle da – uns friert es so schrecklich in unseren Lumpen!“

Marija wollte erst nicht. Was, wenn der hohe Herr es herausfände?

„Komm, gnädige Marija“, bettelte nun auch der kleine Aljoscha – seine Lippen waren schon ganz blau, „erbarme dich unser! Wir wurden vom Zaren in die Verbannung geschickt und unsere Eltern sind vor Erschöpfung auf dem langen Marsch schon gestorben. Sei du doch gnädig mit uns, sonst erfrieren wir auch noch.“

Marija brannte das Herz, doch sie wusste, wie grimmig der Nordwind werden konnte, wenn von seiner Wolle fehlte.

„Ach komm schon, Mariuschka“, liess Natascha nicht locker, „das bisschen Wolle wird dem hohen Herrn schon nicht auffallen!“

Und so gab Marija den zwei Waisen von der blauen Wolle, auf dass sie ihre Lumpen damit ausstopfen konnten um nicht weiter zu frieren.


Der Nordwind gewahrte wohl und sofort, dass seine Wolle geschmälert wurde und darüber erboste er so sehr, wie selbst Marija ihn nie erlebt hatte. Er nahm seine grosse Peitsche und trieb die jaulenden und heulenden Windemeutehunde über die ganze, weite Tundra, auf dass sie den vermaledeiten Räuber jagen und fangen würden. Und die Menschen verkrochen sich tief in ihren Hütten und Hurten, umringt und bedrängt von den knurrend-knarrenden und zuweilen auch winselnden Hundemeutewinden. Einen derartigen Grimm gab es seit über hundert Jahren nicht! Doch Marija, die wusste, warum von der blauen Wolle fehlte, schwieg stille. Zu sehr fürchtete sie selbst den hohen Herrn.


Natascha und ihr kleines Brüderchen fanden kaum Schutz vor dieser Meute. Gekauert in ein geknicktes Birkchen hielten sie sich noch immer umschlungen. Doch die blaue Wolle machte den feinen Aljoscha so leicht, dass er in einem unachtsamen Moment der Schwester, dieser einfach entrissen und von den jaulenden Winden gen Süden getrieben wurde. Verzweifelt versuchte sie ihn noch zu packen, doch es war schon zu spät!

„Marija, Marija“, rief Natascha verzweifelt, „hilf uns schnelle. Aljoscha, mein Brüderchen, wurde von den Hunden davongejagt!“

Marija gewahrte das Unglück sofort. Doch die Hunde gehorchten nur dem Grimm des Nordwindes.

„Marija, Marija“, schrie Natascha weiter, „Mein Brüderchen ist doch noch so klein! Die blaue Wolle hat ihn ganz leicht gemacht.“

Marija seufzte verzweifelt. Der arme Aljoscha, er war kaum noch zu gewahren am Horizont – so schnell hatten die Windemeutehunde ihn schon in den Süden getrieben.

„Marija, Marija“, jammerte Natascha dem Zusammenbruch nahe, „was soll in dieser Fremde nur aus meinem Brüderchen werden?“

Da fasste sich Marija ein Herz. Sie musste für ihre Tat beim Nordwind einstehen. Nur so waren die Hundemeutewinde zu besänftigen. Und so erzählte sie dem hohen Herrn alles in der Erwartung, dass nun sein Grimm nur mehr ihr gälte und somit die anderen verschone. Tatsächlich pfiff der Nordwind seine Hunde zurück, so dass wieder Friede und Ruhe in der Tundra einzogen. Doch zu Marijas grosser Überraschung war es nicht Zorn, was der hohe Herr ihr entgegenbrachte, sondern Verständnis! Natürlich war es richtig, den armen, verbannten Waisen von seiner Wolle zu geben – warum habe sie ihm dies nicht sofort gesagt? Nun müsse sich Marija aber beeilen und Aljoscha, der weiss Gott wie weit im Süden verschollen ist, seiner Schwester zurückbringen.


So brach Marija also auf, Aljoscha zu suchen. Und seither hat der hohe Herr seine Schafe selbst zu weiden. Doch da er dabei nicht so geschickt ist wie Marija, so knallt zuweilen seine Peitsche und heulen die Windemeutehunde weit über die Tundra, die verstreuten, blauen Wolkenschafe wieder zusammen zu treiben.

Ein Sibirisches Märchen