Leseprobe

Ich im Sternenmeer

Zwölf phantastische Erzählungen

Lomason


Paperback

400 Seiten

ISBN 978-3-7460-4309-8


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Stimmen zum Buch:

Lovely Books

Dies ist von allen Geschichten die drittälteste. Sie handelt zu einer Zeit, als die Menschen noch zogen über Wiesen und durch Wälder. Wo die Steine sprachen und die Vögel zwitscherten. Es kam, dass lebte im Garten, den Pdha – die Urmutter – erschaffen hatte, ein alt-uraltes Monster. Es war genannt das Mutt. Und es kam, dass unter den Menschen ein Sohn geboren wurde. Die Weisen hörten, was die Steine sagten und die Vögel zwitscherten. Es raunte in den Wäldern, und zuweilen auch im Plätschern der kleinen Bäche war zu hören vom Schicksal dieses Jungen.

So wuchs dieser Menschensohn auf und seine Augen waren klar wie Diamanten. Mit jedem Tag, den er durch die Wälder strich, mit jedem Tag, wo er bewundernd vor den verschiedensten Pflanzen stand, mit jedem Tag, an dem er den Tieren gleich – vom Bären die Kraft, vom Panther die Wendigkeit, von den Vögeln die Fröhlichkeit und vom Schmetterling die Leichtigkeit – die Welt so zu seiner machte, mit jedem dieser Tage wuchs er heran, sein Schicksal erfüllen zu können. Und seine Augen waren klarer und strahlender denn je!

Die Menschen respektierten ihn schon von ganz klein an – auch hatte er einen besonderen Freund. Es war dies einer der allwissenden Leoparden; Paba Ziko war sein Name. Und der Junge erzählte ihm alles, was er sah, und der Leoparde erklärte ihm sodann, was dieser davon sonst nicht verstanden hätte.


Auf einem der Ausflüge, welche die beiden zusammen unternahmen, kamen sie eines guten Tages zu den Gestaden eines kleinen Waldsees. Und wie der Junge da am Rande stand, da wurden seine Augen ganz gross vor Staunen!

„Paba Ziko, komm schnell. Hier ist was Gewaltiges!“

Der Leoparde kam dazu, konnte jedoch erst nicht sehen, was der Junge meinte.

„Was denn, was meinst du?“

„Es ist gross, es ist mächtig… es ist alt. Siehst du’s nicht?“, sprach der Junge voller Verwunderung.

„Was?“, fragte der Leoparde, „was ist es denn? Ein Bär, oder sonst ein Tier?“

„Ich weiss es nicht, Paba! Sag du es mir doch.“

Der Leoparde schaute angestrengt hin, doch es wollte ihm nichts dazu einfallen.

„Hm, so genau seh’ ich’s nicht“, meinte der allwissende Leoparde, „es ist kein Bär, denn es hat einen Schwanz. Doch auch kein Löwe, denn es hat Flügel. Und auch kein Adler, denn es hat keinen Schnabel…“

Der Leoparde schüttelte nachdenklich den Kopf. Etwas unsicher blickte er zum Jungen, doch dieser starrte nur weiter fasziniert auf dieses Ungetüm, welches fröhlich und wild vor den beiden badete.

„Ein Ding, das selbst die Leoparden nicht wirklich kennen!“ In den Augen des Jungen blitzte es. „Ich geh und frage, wer es sei!“

„Nein, geh nicht“, rief Paba Ziko hinterher, „wer weiss, ob es böse ist!“

Doch der Junge hörte nicht. Zielstrebig watete er durchs Wasser zum Ungetüm hin. Wie gross es war! Und welche mächtigen Pranken! Das Biest badete indes lustig weiter und überhaupt schien es keine Notiz vom Jungen nehmen zu wollen, welcher nun bis zu den Lenden vor ihm im Wasser stand.

„He!“, rief dieser laut und wich eben einem Flügel aus, der gerade vom Ungetüm übers Wasser gepeitscht wurde.

„He! Pass doch auf!“, schrie der Junge, als er sich wieder aufrappelte.

„Wer spricht hier so laut?“, fragte das Biest und drehte sich zum Jungen hin.

„Der Junge vom Menschenstamm hinter jenem Hügel, mächtiges Biest!“

„Wen nennst du hier Biest, kleiner Naseweis?“

Dabei kam das Ungeheuer ganz nahe an den Jungen heran. Rechts und links schossen zwei Pranken hervor und während der zottelige Kopf fast den Jungen berührte, deckten die Flügel den Himmel ab – so, dass es ganz dunkel wurde. Der Jungen erschrak mächtig. Am liebsten wäre er davongerannt. Doch wohin? Da entdeckte er im Gesicht des Monsters zwei grosse, mattweisslich schimmernde Scheiben.

„Aha, nun also sehe ich dich, Junge!“, sprach es, dass sich das Wasser leicht kräuselte.

„Du bist der Junge, von dem der Wind mir flüsterte und auch die Bäume raunen zuweilen! Allerdings, dass du so ein frecher Kerl bist, haben sie mir nicht gesagt!“

„Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber wer bist du denn? Selbst mein Freund, der Leoparde Paba Ziko, wusste es nicht!“

„Oh, ja, die Leoparden. Sie wissen viel; soviel, dass sie wohl gerne damit angeben. Doch mich wissen sie nicht!“

Das Ungeheuer richtete sich auf und der Junge – geblen-det von der plötzlichen Sonne – hielt sich die Hand vor das Gesicht.

Das Monster sprach:

„Sieh gut hin und höre, wer ich bin:

Ich bin älter als die Berge, Wälder und Flüsse. Älter als die Steine und das Gezwitscher der Vögel. Älter bin ich sogar als der Mond und die Sonne! Ich bin das Mutt!“

Das Mutt senkte seinen Kopf wieder zum Jungen.

„Pdha, meine gute Freundin, sie hatte mir damals zu ihren Lebzeiten versprochen, dass ich mich in ihrem Garten ausruhen darf. Und da sie so gut war zu mir, so will ich auch gut sein zu ihren Geschöpfen!“, sprach es, drehte sich sodann auf den Rücken und fläzte einmal kräftig hin und her. Dies tat es so wild, dass der Junge Acht geben musste, von den Wellen nicht an Land gespült zu werden.

„Sind meine Tage doch auch gezählt, wie die von Pdha es waren. Hmpf… auch mein Augenlicht ist nicht mehr das von früher!“

Das Mutt drehte sich wieder auf seine Pranken und schüttelte die Flügel aus, so dass ein leichter Nieselregen über dem See niederging und kleine Regenbögen zauberte. Da sah der Junge auch die vielen Narben, die dem Monster über den ganzen Körper liefen.

„Warum hast du denn so viele Narben? Was hat dich so zugerichtet?“, fragte der Junge erstaunt.

„Das?“, lachte das Mutt, „Das sind die Auszeichnungen eines langen Lebens!“ Und ernster fügte es an: „Spuren aus den Schlachten des grossen Krieges, als das wahre und reine Böse noch gegen das wahre und reine Gute kämpfte. Das waren noch Zeiten!“

Mit diesen Worten wandte sich das Mutt einer beschilften Bucht zu.

„Davon habe ich schon gehört!“, rief der Junge freudig aus, „unsere Weisen haben uns davon erzählt! Aber… auf welcher Seite hast du denn gekämpft?“

Das Mutt hielt inne, schielte den Jungen über die Schulter an und grunzte amüsiert:

„Auf meiner!“

Der Junge blinzelte. Nun ja, das Mutt war offensichtlich mit Pdha befreundet. So schlecht konnte seine Seite nicht gewesen sein! Vergnügt schwamm er dem Mutt hinterher und übersah dabei Paba Zikos Verzweiflungstanz um den Jungen zurückzubeordern.

Das Ungeheuer nahm schliesslich einen kleinen Satz und liess sich in den Schlamm plumpsen, dass es richtig spritzte. Dann drehte es sich wieder auf den Rücken und suhlte sich eine ganze Weile.

„Ahh!“, seufzte es, als es sich wieder auf die Beine drehte. Da sah der Junge, dass eine der Narben am Rücken eiterte – eine Stelle, an die das Mutt offensichtlich schlecht heran kam.

„Ahh!“, seufzte es nochmals.

„Warte!“, rief der Junge, „ich geh und hole vom Moos!“

„Du bist mir gefolgt?“, brummte das Mutt. Doch der Junge war schon im Wald verschwunden. Bald sollte er vom Moos finden, welches man ihm auch schon aufgelegt hatte, als er einst etwas grob mit einem Bären gespielt hatte. Schnell sammelte er so viel ein, wie er kriegen, und mehr als er halten konnte. Doch zurück beim Mutt sah er sofort, dass dies kaum reichen konnte, und so lief er mehrmals.

„Was tust du? Was willst du?“, fragte das Ungeheuer unwirsch, als der Junge gerade wieder erschien.

„Ich werde deine eiternde Wunde versorgen. So, jetzt halte still.“

„Du willst was?... AUA!“

„Hmpf, halt still, ich muss sie vorher reinigen!“

Der Junge rieb sich den Hintern. Er war nicht sehr sanft gegen einen Felsen geflogen.

„Na schön“, grummelte das Mutt und legte sich so zur Seite, dass der Junge gut an die Stelle hinkam. Sogleich begann dieser mit Rinde und Moos die Narbe zu säubern.

Anfangs zuckte das Monster noch mehrmals, doch mit der Zeit schien es Wohlgefallen an der ganzen Prozedur zu haben – es begann leise zu schnurren.

Als der Junge mit dem Säubern der Narbe fertig war, packte er Schlamm und Moos darauf und drückte es fest.

„So!“, sprach er, als er fertig war, „jetzt einfach für den Moment nicht wieder so herumtollen wie vorhin, sonst fällt nämlich alles wieder ab.“

Doch vom Mutt kam keine Antwort. Nur ein leises und regelmässiges Schnarchen war zu hören.

„Sieh an, es schläft!“, meinte der Junge und er kam nicht umhin, ganz tiefe Sympathie für dieses löwenköpfige, adlerflügelige und bärenprankige Ungetüm zu empfinden, welches nun friedlich schlummernd in dieser Bucht lag.


Drei ganze Tage und Nächte schlief das Mutt. Und die ganze Zeit über sass der Junge auf dem flachen Fels am Ufer und wachte über dessen Ruhe. Und wie dieses Monster schlief, schien die Natur regelrecht Überhand über es nehmen zu wollen. Das Moos auf der Narbe blühte auf und wuchs weiter über den ganzen Rumpf. Sogar ein kleines Bäumchen begann irgendwo zu spriessen! Und auch am Kopf und an den Pranken wuchsen plötzlich überall Flechten – so dass es bald aussah wie ein grosser, alter Felsen in dieser Bucht. Der Junge machte sich plötzlich Sorgen, ob es denn überhaupt noch lebe? Er watete bis vor das Gesicht des Mutt, wo er beruhigt feststellte, dass der Atem ging wie gewohnt. Sanft strich er ihm über die drahtigen Schnurrhaare und befreite diese von den bärtigen Flechten, welche sich dort festgesetzt hatten. Da öffnete das Mutt eines seiner grossen Augen und schaute den Jungen mit seiner milchigen Pupille an.

„Du bist ja noch immer hier!“, brummte es schlaftrunken. Dann richtete es sich vorsichtig auf. Am Rumpfteil, welcher im Wasser lag, hing nun ein ganzer Zottelteppich von Seegras und Algen.

„Ich muss kurz eingenickt sein“, gähnte es.

„Also, wenn du drei Tage und Nächte kurz nennst!“

Der Junge stand, mit den Händen in der Hüfte, noch immer im Wasser.

„Hmm, so gut habe ich seit Jahrhunderten nicht mehr geschlafen!“, seufzte das Mutt und streckte sich. „Und du bist immer noch hier!“

Das Mutt beugte seinen Kopf zum Jungen und wiederholte stirnrunzelnd zum dritten Male:

„Du bist noch immer hier.“

Es gab dem Jungen mit seinem Kopf einen leichten Schubs, so dass dieser ins Wasser plumpste.

„Normalerweise haben doch die Deinen Angst vor Monstern wie mir!“, fuhr es nachdenklich fort, „bist du also wirklich der Junge, von dem alle erzählen!“

Soeben hatten sich zwei Spatzen auf die Schulter des Ungetüms gesetzt und begannen fröhlich zu quietschen und pfeifen. Amüsiert legte das Mutt den Kopf schief und schielte zu den zwei frechen Genossen.

„Pdha hat schon was ganz Wunderbares erschaffen in ihrem Garten!“, seufzte es, „da suhlt man sich mal richtig im Schlamm und schon gehört man zum Inventar! Doch nun zu dir, Junge!“

Das Mutt legte sich vor den Jungen hin, der noch immer im Wasser sass und schaute diesen unverwandt an.

„Ja“, fragte dieser, neugierig darauf, worauf dieses grosse und etwas kauzige Ungeheuer hinaus wollte. Doch dieses schwieg eine ganze Weile und schaute ihn nur unentwegt nachdenklich an.

„Hm!“, machte es nach einer guten Weile. Der Junge platzte fast vor Neugierde.

„Keine Krallen“, meinte das Mutt.

„Keine Pranken“, fuhr es fort.

„Was?“, fragte der Junge.

„Keine Reisszähne, keine Klammerschwänze, keine Sprungbeine und keine Flügel“, sprach das Mutt nüchtern. Der Junge blinzelte verwirrt.

„Und nicht mal recht denken können sie, dafür habe sie ja den Beistand der Leoparden! Also, wozu hat euch Pdha erschaffen?“, fragte das Mutt geradeaus. Der Junge war nun erst recht verwirrt. Was war das für eine komische Frage?

„Kannst du singen?“

„Nunja, ein bisschen“, meinte der Junge unsicher.

„Fröhlicher als die Vögel?“

„Nein…“

„Hm!“

„Paba Ziko meinte mal, dass es unsere Aufgabe sei, die Schönheit von Pdhas Garten zu bewundern und sie dafür zu lobpreisen.“, meinte der Junge achselzuckend.

„Wer ist dieser Pabaziko nochmals?“, fragte das Mutt.

„Mein Freund, ein Leoparde.“

„So. Hm“, machte das Mutt, „ein Leoparde… ausgerechnet so ein Parvenü des Universums!“

„Was ist denn ein Parvönü?“

„Das? Hmm…, nun,… hmm. Es ist im Grunde ein anderes Wort für Leoparde. Allerdings darfst du es nie vor ihnen brauchen. Erm, naja. Es ist ein Geheimnis, genau!“, das Mutt grinste leise in sich hinein.

„Komisch“, fuhr es laut fort, „ich wusste nicht, dass Pdha so ein selbstgefälliges Ding wäre, dass sie es nötig hätte, ein Wesen zu erschaffen, welches tagein, tagaus nur ihre Wunder zu lobpreisen hätte! Hier ist doch was faul!“

Das Monster beäugte den Jungen noch immer nachdenklich. Dieser runzelte verwirrter als zuvor die Stirn.

„Wie meinst du das?“

„Aaaaaach, ich weiss doch auch nicht!“, seufzte das Mutt laut auf und legte den Kopf seitlich neben den Jungen ins Wasser. Mit einem Auge beobachtete es ihn noch immer.

„Pdha erschuf euch mit ihrem ersten und mit ihrem letzten Atemzug“, sprach es so leise, dass es nur der Junge hören konnte.

„Sie hat euch ihr gleich gemacht und mehr noch, sie hat euch auch ihrer Zwillingsschwester gleich gemacht!“

„Ihrer Zwillingsschwester?“

„Zerza, Mutter des Chaos und der Zerstörung.“

„Das Böse!“, schreckte der Junge auf.

„Das Böse?“ Das Mutt lachte laut auf: „Du hast keine Ahnung vom Bösen, dummer Junge!“

„Verzeih Mutt, du kennst es natürlich besser. Du hast es ja auch bekämpft in jenem Krieg.“

„Hm, das habe ich streng genommen nicht“, meinte das Monster, „ich habe auf der Seite des Bösen gekämpft.“

Die Augen des Jungen wurden gross und einen Anflug von Panik erfüllte ihn.

„Aber… aber… warum?“

„Warum! Warum!“, antwortete das Monster unwirsch und richtete sich auf. „Was verstehst du schon vom Leben, Kind! Ich war einer der ranghöchsten Generäle des Bösen sogar! Doch niemals waren wir so heimtückisch und falsch wie das Gute. Die kannten Wege und Mittel, da stockt dir das Blut in den Adern!“

Das Mutt schauderte es sichtlich. Dann schaute es beinahe zärtlich zum Jungen herunter, der noch immer am ganzen Körper zitternd im Wasser sass.

„Die Welt ist manchmal furchtbar kompliziert!“, seufzte das alte Ungeheuer, „und seit dem Friedensvertrag, über den nun dieser Vater der Dunkelheit wacht, ist die ganze Sache nicht einfacher geworden!“

„Aber warum lässt dich denn Pdha hier wohnen? Sie war doch auf der Seite des Guten?“

„Ich kannte sie schon lange vor dem Krieg. Ach, was waren die beiden Schwestern doch für Luder damals!“, schwärmte das Mutt.

„Doch nun zu dir, Junge!“, sagte das Monster bestimmt und liess seinen Kopf so vor dem Jungen ins Wasser fallen, dass er kleine Tsunamis am Ufer verursachte.

„Ich habe da eine Idee! Ich werde dir die alten Zeiten zeigen, vielleicht hilft dir das, zu verstehen!“, meinte das Ungetüm und wie beim ersten Mal schossen rechts und links die Pranken hervor, während die Flügel den Himmel zudeckten und es um den Jungen wieder ganz dunkel wurde. Und wieder glänzten die mattschimmernden Augen des Mutt auf. Doch wie der Junge genauer hinsah, verschwand alles um ihn herum und es war, als wäre er in alt-uralte Zeiten zurückversetzt. Planeten, Sterne, ganze Welten entstanden vor ihm und vergingen auch wieder. Er sah Götter aufstehen, er sah sie wirken, kämpfen und vergehen. Er sah die schrecklichen Schlachten, als der Krieg losbrach. Ganze Welten entstanden dadurch und verschwanden auch wieder mit einem Streich. Und er sah, wie das Gute und das Böse Frieden schlossen mit einem Vertrag, der schliesslich die beiden auflösen würden, auf dass es fortan überall zwei Seiten geben möge. Und er sah den Vater der Dunkelheit diesen Vertrag an sich nehmen, damit er über ihn wachen konnte. Und dann erschuf Pdha ihren Garten, die Erde, und ihre Zwillingsschwester war so neidisch, dass sie nur darüber brüten vermochte, eben diese Erde zu zerstören, als Pdha verschied. Hier hörte die Erzählung des Ungeheuers auf und es lüftete wieder seine Flügel, so dass der Junge seine Hand vors Gesicht halten musste, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.

„Was hat dies alles zu bedeuten?“, fragte er verwirrt, „warum zeigst du mir dies alles?“

Das Mutt seufzte.

„Warum bist du nicht bei deinem leopardischen Freund geblieben? Warum bist du mir hinterher gekommen und bei mir geblieben?“

„Aber… ich wollte doch wissen, was du bist… und naja, er wusste es einfach nicht!“

Die Mundwinkel des Mutt verzogen sich spöttisch.

„Ach, der allwissende Leoparde wusste es nicht?“

„Er kennt alles von dieser Erde, doch du bist nicht von hier“, verteidigte der Junge finster seinen Freund.

„Im Grunde bist du genau so wenig von der Erde wie ich!“

„Wie meinst du das“, fragte der Junge argwöhnisch.

„Hast du mir nicht zugehört? Pdha hat euch mit ihrem ersten und letzten Atemzug erschaffen – also lange schon vor der Erde! Was will dieser Pabaziko eigentlich wissen, wozu ihr gut seid?“

„Aber“, meinte der Junge alarmiert, „warum sollte er mich anlügen?“

„Er lügt dich nicht an, er weiss es schlicht und einfach nicht besser!“

„Was ist denn unsere Aufgabe? Wozu hat uns Pdha erschaffen?“, fragte der Junge verwirrt und wissbegierig. Das Mutt seufzte wieder, kratzte sich am Kopf und blinzelte dabei.

„Pdha sprach mal davon, dass ihr zu den mächtigsten Göttern bestimmt wäret… Doch allen Ernstes, wenn ich dich betrachte, kann mir dies im besten Falle höchstens als einer ihrer berüchtigten Scherze dünken!“

Das Mutt lachte und setzte dem Jungen eine Krone aus Algen und Schlamm auf den Kopf.

„Heil dir, grosser Gott! Jetzt lass es Wasser und Feuer hageln!“

Das Mutt wälzte sich vor Lachen, so dass bedenklicher Wellengang den See erfüllte. Wütend riss sich der Junge die Algen und den Schlamm vom Kopf und schrie: „Du bist nicht komisch, Monster!“

„Nein“, lachte dieses noch immer, „aber du bist es!“

Ganz ausser Atem und ab und an noch immer von Lachanfällen heimgesucht, rappelte es sich wieder auf seine Pranken.

„Sieh dich nur an!“, grunzte es, „ihr Menschen seid so erbärmlich schwach, könnt nicht mal richtig denken, so dass ihr darauf angewiesen seid, euch von Leoparden verwalten zu lassen. Obendrein ohne dass ihr dies überhaupt wirklich merkt, noch wisst! Alle Wesen, welche halbwegs etwas bedeuten in diesem Universum, haben ihre Befehle auszuführen und wissen dafür zum Troste ihre Aufgabe. Doch ihr folgt Befehlen, ohne euren Sinn zu verstehen! Ihr vegetiert im dunklen Unwissen dahin. Was könnte solche Kreaturen denn zum höchsten Göttertum prädestinieren, Pdha?“, fragte das Mutt in die Luft. Und sehr ernst den Jungen anschauend, fügte es hinzu:

„Und doch, von allen Generälen des Guten war Pdha die gerissenste. Was führt sie mit euch bloss im Schilde?“

Das Mutt legte sich neben den Jungen und stützte seinen Kopf auf die linke Vorderpranke. Mit der Rechten pflückte es ein kleines Bäumchen am Ufer und steckte es in einen Mundwinkel.

„Hm!“, machte es nur.

Der Junge – verwirrt und nachdenklich – streckte sich seinerseits ganz flach im Wasser aus und schaute in den weiten, blauen Himmel. So zog die Zeit dahin. Erst, als es schon einzunachten begann, schreckte er aus seinen Bildern auf.

„Ich muss zu den Meinen zurück!“, meinte er hastig.

„Gut!“, grunzte das Mutt.

Der Junge schwamm zum Ufer und watete zum Wasser heraus. Am Waldrand drehte er sich nochmals um und schaute zum Ungeheuer zurück. Dieses hatte sich noch kein bisschen bewegt. Der Junge atmete tief durch und fragte:

„Werde ich dich hier wieder treffen?“

„Wer weiss“, kam eine Antwort. Der Junge atmete nochmals tief durch und liess seinen Blick zärtlich über dieses wunderliche Ungeheuer schweifen, welches ihm den Rücken zudrehte. Es sah aus wie ein grosser, bemooster Fels im Wasser. Der Junge drehte sich um und verschwand grusslos zwischen den Bäumen.


Die Menschen hinter dem Hügel waren seit Tagen in Sorge und Aufregung gewesen. Paba Ziko hatte ihnen erzählt von jenem Monster im See und dass es den Jungen wohl schon gefressen haben müsste. So war denn die Aufregung doppelt, als dieser plötzlich quietschfidel daherkam. Und er konnte eigentlich das ganze Hallo, welches man um ihn veranstaltete, überhaupt nicht verstehen. Er wusste eben nicht, dass Paba Ziko gegenüber den Weisen die Befürchtung ausgesprochen hatte, dass es sich bei diesem Monster um jenes aus der Prophezeiung handeln könnte – jenes Monster, welches Zerzas letzten Willen in Pdhas Garten bringen würde, um diesen ein für alle Male zu vernichten. Und so glaubten die Menschen dem Jungen kein Wort, als er beteuerte, dies sei unmöglich wahr, habe das Mutt doch nicht annähernd Anstalten zerzaischer Züge gemacht! Doch die Weisen beschlossen, dass der Junge ohne Zweifel einem Wahn unterläge – vielleicht einem Zauber! Und sie berieten sich mit Paba Ziko und anderen Leoparden, was zu tun sei. Nun, so war das einstimmige Credo der Katzen, diesem Eindringling sei der Garaus zu machen! So kam es, dass die Menschen hinter dem Hügel die Kriegstrommeln wirbeln liessen und sich die mutigsten der Recken auf den Kampf vorbereiteten. Ob denn ein Leoparde den Zug anführen würde, fragten die Weisen. Doch Paba Ziko hatte schon einem der verheissungsvollsten Krieger so viel Mut zugesprochen, dass dieser sich zum Anführer erkor.

Den Jungen konnten sie nicht nach dem Wege fragen. Er weigerte sich hartnäckig, irgendetwas einzusehen und so hatten die Menschen ihn in eine Grotte gesperrt – zum Selbstschutz, wie Paba Ziko beteuerte.

Die Leoparden gaben den Kriegern etliche Tipps, wie so ein Monster wohl zu besiegen sei, und schliesslich zogen die Recken los, zu Ruhm und Ehre die Erde – Pdhas Garten – zu retten. Paba Ziko hatte ihnen auch beschrieben, wie sie zu jenem See gelangen sollten. Dort würde sich dieses Monster wohl schon zeigen! Sie müssten nur darauf achten, nicht dem gleichen Zauber zu unterliegen wie der Junge. Doch die Weisen hatten allerhand Talismane erschaffen, die Krieger vor allem Möglichem zu beschützen.

So gelangte diese Kriegerschar – es waren derer etwa zwanzig Stück – zu jenem Waldsee. Doch das Monster war nirgends zu sehen.

„Zeig dich, Biest!“, schrie der Anführer laut. Doch alles blieb ruhig und sanft. Der Wind kräuselte das Wasser, die Frösche quakten geschäftig am Ufer, die Fische sprangen – kurz, nichts wies auch nur im Entferntesten auf irgend-eine zerzaische Brut hin.

„Wir wissen, dass du dich hier versteckst, Ausgeburt der Hölle!“, schrie der Anführer, sichtlich erbost. Er packte einen grossen Stein und warf ihn so weit er konnte in den See hinaus. Es machte einmal kräftig Plumps, daraufhin war wieder alles ruhig und friedlich. Vor Wut stimmte der Anführer grosses Kriegsgeschrei an und seine wilden Kriegergenossen fielen mit ein. Sie tanzten wild am Ufer und schleuderten ihre Stöcke und Speere mit aller Kraft in den See, doch noch immer tat sich nichts. Nur ein paar Vögel suchten erschrocken das Weite.

„Nun gut“, meinte der Anführer erschöpft, „das Monster fürchtet uns jetzt. Ewig wird es sich jedoch nicht verstecken können! Wir werden hier Wache halten.“

Am Seeufer wurde ein Lager aufgestellt und Wache gehalten – ganze sieben Tage und Nächte lang. Währenddessen umstreiften verschiedene Krieger den See, um auch in die verborgenen Buchten zu schauen. Doch nirgends war ein Monster zu erblicken. So mussten die tapferen Krieger einsehen, dass das Ungeheuer wohl nicht mehr da war und sie zogen mit hängenden Köpfen zurück zu ihrem Stamm – ohne Ruhm und ohne Ehre.


Der Junge hatte es unterdessen aufgegeben, den Menschen den Sinn ändern zu wollen, und wiederholte also alles, was sie von ihm hören wollten. Doch in seinem Herzen wusste er, dass die Weisen den falschen Weg beschritten. Und er begann ernsthaft daran zu zweifeln, ob diese überhaupt so weise waren! Doch wenn die Wege der Weisen falsch waren, welcher war dann der richtige? Welcher es auch immer war, er würde ihn suchen, das wusste der Junge. Er würde ihn suchen und beschreiten, so dass, wer ihm folge, nicht irren würde!

Nach einiger Zeit liessen die Menschen auch tatsächlich von ihm ab und entliessen ihn wieder aus der Höhle. Nur Paba Ziko war noch immer argwöhnisch. Irgendetwas war anders mit dem Jungen, undurchsichtiger als sonst, das spürte der Leoparde ganz deutlich.

So nahm der Junge die erstbeste Gelegenheit wahr, sich von seinem Stamm zu verabschieden. Er kündigte an, im Wald Blaubeeren pflücken zu wollen, und verschwand. Er hatte nicht vor, wiederzukommen. Er lief also los und hinter dem ersten Stein lauerte Paba Ziko ihm auf.

„Wohin des Weges?“, fragte er den Jungen scharf.

„Blaubeeren pflücken“, log dieser unschuldig.

„Du kannst mich nicht betrügen!“, entgegnete der Leoparde.

„Denkst du?“, kam die freche Antwort.

„In dieser Richtung liegen nicht die Plätze, an denen wir die Beeren zu pflücken pflegen!“

„Vielleicht kenn‘ ich auch andere?“

Der Leoparde guckte den Jungen scharf an, so als ob er ihn durchschauen könnte.

„Tust du nicht!“

„Woher willst du das wissen?“

„Ich sehe es in deinen Bildern!“

„Welche Ahnung hast du schon von meinen Bildern!“

„Pass auf, Junge, bisher war ich immer gut zu dir und es war ein seltenes Privileg für einen Menschen, einen Leoparden wie mich als seinen Freund ansprechen zu dürfen! Doch dies kann sich ändern! Vor allem, mache mich nicht zu deinem Feind!“

„Pass du auch mal auf, Katze! Du denkst, du wärst so etwas Besonderes? Dass du alles weisst? Du hast nicht mal annähernd eine Ahnung, wie gross dein Unwissen ist! Du kennst vielleicht alles von dieser Erde, doch mich kennst du nicht!“

Mit diesen Worten liess der Junge den verdatterten Leo-parden stehen und lief weiter durch den Wald. So weit, bis er an dessen Rand gelangte. So verschwand der Junge, über den die Steine erzählten und die Vögel zwitscherten, für die Menschen in diesem Wald. Sie konnten sein Verschwinden genau so wenig erklären wie den Verbleib jenes bizarren Monsters. Nur Paba Ziko ward von jenem Tage an ruhiger und nachdenklicher als zuvor.



Die Prophezeiung hatte es angekündigt und so kam der Tag, an dem es erschien – jenes siebenfach vermaledeite Monster, erstanden als Zerzas letzter Wille, die Vernichtung über Pdhas Garten zu bringen. Gift und Galle speiend kroch es in einer gewaltigen Schwefelwolke aus der Unterwelt empor und wie es den Tag erblickte, fluchte es mit donnernder Stimme:

„Feuersturm und Schwefelhagel, siebenfach vermaledeit! Hier komme ich nun, Zerzas vollkommener und letzter Wille, zu bringen über euch die Übel der Unterwelt! Berge mögen Feuer speien und Asche alles bedecken! Die Wasser mögen schwarz werden und alles verschlingen, von oben wie von unten! Stürme mögen toben, Schnee alles einfrieren, Winde brausen und brechen, Sonne versengen und nicht zuletzt soll Zerzas keifendes Wesen jedes noch so glückselige Heim zerfressen!“

So wie die Worte gesprochen, brach es über Pdhas Garten herein.

Nun mag der Zuhörer der Geschichte sich wundern, dass in der Aufzählung der Katastrophen, welche nun die armen Bewohner von Pdhas Garten heimsuchten, doch etwas ganz Wichtiges fehlte. Nämlich die bebende Erde! Zerzas letzter Wille brachte all dieses Unheil über die Erde, aber keine Erdbeben. War es etwa so, dass die bebende Erde den Bewohnern damals vielleicht gar nicht so aufgefallen wäre? Weit gefehlt! Doch die Macht, Pdhas Garten in seinen Grundfesten zu erschüttern, die konnte nur in der Hand eines guten Gottes liegen. Denn sonst wäre doch Pdhas Garten wirklich in den Händen der Bösen gelegen und das ging ja nicht, das konnte, nein – das durfte nicht sein! So stritten sich die damaligen Bewohner, wer denn eigentlich über eine solche Macht tatsächlich gebieten könnte. Sprich, wer denn für die bebende Erde verantwortlich war. In Frage kam natürlich erst einmal nur der mächtigste aller Götter und dies war – da waren sich alle einig – der Vater der Dunkelheit. Doch gerade die intelligenteren der Bewohner machten sehr schnell geltend: Wenn man ein-gehender darüber nachdachte, konnte dies eigentlich nicht sein. Denn der Vater der Dunkelheit war gerade so mächtig, weil er über den Friedensvertrag zwischen Gut und Böse wachte. Er stand also über Gut und Böse, er war weder noch! Dies sich vorzustellen, dürfte noch heute eine ziemliche Zumutung sein. Da man ihm ja weder gut noch böse als Prädikat anhängen konnte, einigte man sich schon in diesen Tagen darauf, dass „er ist.“ Der Vater der Dun-kelheit war die Gottheit der Neutralität und diese Qualität machte ihn gerade zum idealen Wächter über jenen Vertrag! Er war sozusagen der Gott der Unerschütterlichkeit, des ewigen göttlichen und konstanten Ruhens, der absoluten Regungslosigkeit – kurz, er war irgendwie schlicht und ergreifend nicht der überzeugende Kandidat für eine Macht wie die des Erdbebens. Und ganz im Ernst, wie soll denn auch ein Gott, welcher offensichtlich Mühe hatte, sich selbst zu bewegen, überhaupt fähig sein, so etwas zu erschüttern wie Pdhas Garten? Dieses Argument dürfte auch die weniger intelligenten Bewohner der damaligen Zeit überzeugt haben. Es musste also ein anderer Gott gefunden werden für diese Macht. Der Vater der Dunkelheit besass ja auch schon die Mächte der göttlichen Dunkelheit. Und die waren ja auch nicht schlecht – tröstete man sich.

Also: Die Nummer Eins des Pantheons konnte jene mächtige Fähigkeit kaum ausüben. Andererseits konnte sie auch nicht irgendeinem dahergelaufenen Dreikäsegott anvertraut werden! Nein, es musste sich dabei zweifelsohne um die Nummer Zwei im Pantheon handeln. So weit, so gut. Es war auch durchaus logisch, dass, wenn die Nummer Eins eine dunkle Gottheit war, die Nummer Zwei eben eine helle zu sein hatte, sprich, ein Sonnengott. Soweit waren sich die Bewohner Pdhas Garten auch noch einig. Doch gerade hier sollte die Schwierigkeit beginnen. Denn – ha – Sonnengötter schien es mehr zu geben als Bewohner! Kein Wunder, konnte doch unmöglich derselbe Gott die Ähren auf dem Felde reif und die Kühe trächtig machen! Oder die Kinder gesund und die Feinde schwach. Kam ja noch hinzu, dass jede Familie praktisch ihren eigenen Sonnengott hatte. Man wollte sich doch nicht lumpen lassen! Also, welcher dieser Kerle war denn nun wirklich die Nummer Zwei? Es war dies also eine ernst zu nehmende, theologische Auseinandersetzung der Vorzeit und guter Rat war bekanntlich teuer. So glaubte das stolze Volk der Kahr schliesslich, Abhilfe gefunden zu haben. Denn sie proklamierten, dass es selbstverständlich ihr Sonnengott sei, welcher gemeint sei und würdig der Macht des Erdbebens. Denn, so sprachen die Weisen jenes Volkes, seht nur selbst:


Unser Gott ist gross. Er ist rund. Er ist eins. Und wenn er über die Felder geht, werden die Ähren goldig und schwer. Und wenn er über den Häusern steht, lachen die Frauen. Und – nun ja – wenn es dunkel wird, frisst er kleine Kinder. Warum auch nicht, denn wer ist schon perfekt! Und solange es sich um die Kinder der Feinde handelte…


Wie auch immer. Die Kahr waren unter anderem auch dafür bekannt, unbesiegbare Armeen zu haben. So gab es kaum Gegenstimmen. Und doch, halt, eine gab es. Diese kam ausgerechnet von den Bebaals.


Haben wir das richtig gehört?, fragten die Weisen jenes Volkes, euer „Gott“ frisst kleine Kinder? Was soll das bloss für ein Gott sein? Im besten Falle doch bloss ein Hochstapler unseres Gottes! Denn seht nur, auch er ist gross, rund und eins. Und auch unsere Ähren sind goldig und die Frauen lachen und so weiter. Aber am Wichtigsten: Wenn es dunkel wird, dann begnügt sich unser Gott damit, lediglich mit den Kleinen zu schlafen!


Nun, ob das so viel besser ist? Wie dem auch sei, die Bebaals waren auch bekannt dafür, dass sie uneinnehmbare Festungen hatten. Und so steckte man mit der theologischen Diskussion erst recht in der Klemme! Auf der einen Seite unbesiegbare Armeen, auf der anderen uneinnehmbare Festungen. Es brauchte also unweigerlich göttliche Hilfe hier! So ermächtigten die jeweiligen Weisen der Völker ihren Sonnengott denn auch um jene Gabe, sozusagen serviert ‘auf dem Silbertablett’, auf dass sie diese nun einmal an den Feinden demonstrieren mögen.

Und es kommt, wie es kommen muss: Die Erde bebt. Ha – und nicht nur einmal! Nein, sie bebte damals täglich irgendwo! Ja, die Götter waren ziemlich am Kegeln und es war eigentlich überhaupt nicht übersichtlich, wer nun wo, wie, was und warum beben liess. Auch gibt es bei der Sache noch einen anderen Haken. Denn wenn dir ein Vulkan das Feld zerstörte, Wasser das Dorf überschwemmte, ein Sturm alle Hoffnung zunichte machte und sogar wenn deine Frau für dich nur noch Gift und Galle übrig hatte, dann konntest du als damaliger Bewohner von Pdhas Garten trübselig Zerza für die erlittenen Übel anklagen und mit neuem Mut, den wohlwollenden Götter zur Freude, eben diesem Bösen trotzen. Doch wenn dir wegen einem Erdbeben die ganze Hütte über dem Kopf einbrach, funktionierte diese lebenspraktische Haltung plötzlich nicht mehr! Denn dann hatte dies ganz offensichtlich ein guter, aber leider nicht wohlwollender Gott zu verantworten! Das heisst, er bestraft dich. Oder aber deinen Nachbar. Vielleicht hat er sich auch geirrt. Oder es war ihm bloss langweilig. Wie zum Beispiel jene Bewohner der Stadt Anariki. Haben diese armen Teufel nicht innerhalb von drei Generation ihre Häuser vierzehnmal wiederaufgebaut? Was war eigentlich deren Fehler, haben sie doch zu beiden Göttern gebetet, und – prophylaktisch – auch noch zu mehreren anderen! Man darf jedoch auch nicht vergessen, dass die alten Götter eben auch die alten Götter waren; sie waren allesamt aufbrausend, jähzornig, rachsüchtig und irgendwie überhaupt nicht so, wie wir uns vielleicht heute Götter vorstellen. Wie brachte es Meister Dchoras so trefflich auf den Punkt:

„Das Gute an unseren alten Göttern ist ja eigentlich, dass wir sie mehrheitlich vergessen haben!“ Und jene, die wir nicht vergessen haben, haben sich doch auch ganz artig entwickelt – bis vielleicht auf den Vater der Dunkelheit. Aber, naja, wenn sich der Gott der Unveränderlichkeit irgendwie entwickeln würde, nun, das wäre doch wirklich ein Kuriosum!



Doch zurück zur Geschichte. Jenes siebenfach vermaledeite Monster also, von dem die Prophezeiung sprach, kam in die Welt – die Kräfte Zerzas in der Erde wie in deren Bewohnern erweckend! Schnell nahm das Chaos seinen Lauf und drohte, Pdhas Garten zugrunde zu richten.

Der Junge war indessen zu einem stattlichen Mann herangewachsen – zum Wanderer, wie ihn die anderen nannten. Und grosse Achtung hatte man vor seinen Kenntnissen und vor seiner Weisheit. Man munkelte sogar, er könne selbst den Leoparden Paroli bieten!

Nun, wo die Not so gross wurde wegen jenes Monsters, das man Zerzas letzter Wille nannte, bekniete man auch ihn, ob er denn nicht irgendeine Erlösung von jenem grässlichen Biest zu finden wüsste. Die Armeen der Kahr waren schon aufgerieben und auch die Festungen der Bebaals glichen nur noch grossen Schuttkegeln. Was konnte diesem Ungetüm noch entgegengesetzt werden? Der Junge alias der Wanderer überlegte tief und lange. Und es kam ihm schliesslich nur eine Idee. Das einzige, was wohl ernsthaft eine Chance versprach gegen jenes Unding, war zweifelsohne das Mutt! Doch würde es ihnen helfen?


Paba Ziko war in der Zeit, seit der Junge verschwunden war, sehr ruhig geworden. Anders als die anderen Leoparden wollte es ihm kaum mehr Spass bereiten, den Menschen seine Befehle aufzubrummen. Irgendwie wollte er sie einfach einmal Leben lassen und siehe da, es funktionierte hervorragend. Nur ab und an, da brauchte es sozusagen einen Gedankenanstoss! Und sonst verbrachte er die Zeit damit, diese Menschen einfach zu beobachten. Wahrlich, sie waren doch sehr unbeholfene Kreaturen. Und doch schafften sie es immer wieder, ihn zu überraschen! Paba Ziko kannte wirklich alles von der Erde, doch die Menschen, die kannte er nicht! Der Junge hatte Recht und er war ihm gegenüber im Unrecht. Dies war das schlechte Gewissen, dass den Leoparden plagte. Ab und an erkundigte er sich bei den anderen Leoparden, wie es dem Jungen auf seiner Wanderschaft erginge. So wurde er aus der Ferne Zeuge dessen Erfolgs als weiser Wandersmann. Und er wurde auch Zeuge, wie er von den gepeinigten Völker auserkoren wurde, den Kampf gegen Zerzas letzter Wille anzuführen.


Es kam also, dass, als der Wanderer in jenes waldige Tal zurückkehrte, am Waldrand Paba Ziko schon auf ihn wartete. Die beiden beäugten sich zuerst eine Weile stumm. Dann meinte der Leoparde:

„Du bist zurück.“

„Du weisst, warum.“

Der Leoparde seufzte und sah den Wanderer bedrückt an. „Es tut mir leid.“

„Was?“

„Es tut mir leid für damals. Ich war … ein Dummkopf!“

Der Wanderer schaute auf Paba Ziko. Noch nie hatte er einen der sonst so überheblichen und stolzen Leoparden so kläglich erlebt. Dieser war wirklich nur noch ein kleines Häufchen Elend.

„Paba Ziko… mein Freund. Es ist gut. Ich glaube, ich weiss auch nicht alles über euch Leoparden!“

Die beiden sahen sich geradeaus an. Plötzlich mussten beide lachen. Und so standen die beiden eine gute Weile nur da und lachten sich gegenseitig an.

„Ach mein guter, alter Freund!“, sprach der Wanderer und kraulte dem Leoparden den Rücken, was dieser mit einem leisen Schnurren quittierte.

„Ich weiss nicht, ob das Mutt noch hier ist“, meinte Paba Ziko ernster, „wir haben es, seitdem du mit ihm geredet hast, nicht mehr gesehen.“

„Hm!“, machte der Wanderer bloss und ging bestimmten Schrittes in den Wald. Der Leoparde hatte Mühe, Schritt zu halten.

„Wird es uns helfen?“, fragte er.

„Das wird sich zeigen!“

Endlich kamen sie zum See. Der Wanderer liess prüfend seinen Blick über die Fläche schweifen.

„Wer ist es?“, fragte der Leoparde neugierig.

„Es ist ein alter General aus jenem grossen Kriege zwischen dem Guten und dem Bösen.“

„Und… auf welcher Seite?“

„Der Bösen.“

Paba Ziko schwieg eine Weile. Dann meinte er:

„Hm, dann wird es Zerzas letzter Wille kennen. Das kann uns wirklich helfen! Doch wie du siehst, ist es nicht mehr hier.“

Der Wanderer lachte.

„Nicht hier? Dabei liegt es doch direkt vor unserer Nase!“

Der Leoparde blinzelte verdutzt, während der Wanderer schon ins Wasser watete.

„Seit wann hatte dieser See eine Insel!“, rief er aus dem Wasser und schwamm los.

Hatte dieser Waldsee eine Insel, als er damals zum ersten Male mit dem Jungen hierherkam?, fragte sich Paba Ziko. Aber diese Insel – da wuchsen ja mächtige Tannen und überhaupt, konnte dies ein Monster sein, das einst an Zerzas Seite gekämpft hatte?

Der Wanderer schwamm unbeirrt bis vor die alten, verwitterten Felsen der Insel und rief laut:

„He, Mutt, altes Ungetüm! Wachst du oder schläfst du?“

Da kam auf einmal Bewegung in die Felsen und die Insel begann sich sachte zu drehen.

„Wenn das nicht der freche Bengel von damals ist!“, ertönte ein dumpfes Brummen und das Mutt steckte seinen Kopf in Richtung des Wanderers.

„Bist du auch hier, weil du denkst, du könntest mich mit einem lächerlichen Holzspiess aufstechen? Oder was willst du?“

„Warum sollte ich dich aufspiessen wollen? Das waren doch nur Kinder, schlecht beraten obendrein!“

Das Mutt schnaubte: „So kam’s mir auch vor!“

„Ich bin hier, weil ich dich um Hilfe bitten will“, fuhr der Wanderer fort, „Zerzas letzter Wille ist über uns hergefallen. Doch sind nun schon unsere Armeen und unsere Festungen zerstört! Wir haben ihm nichts mehr entgegenzusetzen!“

„Dann versteckt euch doch.“

„Wo denn? Du weisst genau, dass Zerzas letzter Wille keine Ruhe geben wird, bis Pdhas ganzer Garten zerstört ist! Wo können wir uns da noch verstecken?“

Das Mutt seufzte.

„Du willst, dass ich euch helfe, gegen dieses Biest zu kämpfen?“

„Du kannst uns anführen! Du kennst seine Schwächen!“

„Kenn‘ ich die?“, fragte sich das Mutt und kratzte sich am Kopf, dass erste Tannen splitternd zerbrachen und ins Wasser stürzten.

„Und ihr wollt etwa mit euren lächerlichen Spiessen gegen dieses Monster antreten?“

„Was bleibt uns übrig?“

Das Mutt schwamm vor dem Wanderer auf und ab. Paba Ziko musste zugeben, dass es schon etwas Generalhaftes an sich hatte.

„Hmpf“, schnaubte das Mutt, „in jüngeren Tagen und vor allem mit besserem Augenlicht hätte ich persönlich mit ihm gekämpft! Das wäre ich Pdha eigentlich sowieso schuldig…“

„Ich kann dein Augenlicht sein!“, rief der Wanderer aus dem Wasser.

„Hm!“, machte das Mutt und kam dann ganz nahe an den Wanderer heran.

„Du bist offenbar ein Mann geworden! Das geht furchtbar schnell bei euch Menschen. Es wird allerdings nicht einfach sein, in einem solchen Kampfe mein Augenlicht zu sein.“

Das Mutt drehte sich zum Ufer, wo Paba Ziko noch immer stand.

„Was meinst du, Leoparde?“

„Nun“, Paba Ziko räusperte sich. Er war durchaus überrascht, plötzlich so angesprochen zu werden.

„Ich denke, wenn jemand dein Augenlicht sein könnte, dann dieser Mensch hier! Er ist tapfer und mutig und seine Augen sind noch immer klar wie Diamanten!“

„Hm“, machte das Mutt, „das habe ich mir auch schon gedacht. Und doch, welcher Gefahr setzte ich deinen Freund aus?“

„Ich habe keine Angst, Mutt“, sprach der Wanderer, „denn dies ist der Weg, auf dem ich nicht irre!“

Das Mutt legte sich gerade vor den Wanderer ins Wasser und schaute diesen mit seinen milchigen Augen lange an.

„Hm“, machte es wieder, „wie interessant. Langsam beginne ich zu begreifen, welch wunderbare Geschöpfe Pdha hier erschuf! So geh an, Junge! Klettere mir auf den Rücken und halte dich gut fest. Jetzt geht’s nämlich los!“

Der Wanderer liess sich nicht zweimal bitten und kletterte hinter den Kopf des Monsters. Dieses streckte seine Flügel und schlug kräftig aus, was noch die restlichen der grossen Bäume, welche auf ihm Wurzel gefasst hatten, wegfegte.

„Du, Leoparde, geh und warne die anderen. Wenn wir gegen Zerzas letzter Wille kämpfen, wird es rau zu und her gehen. Schon möglich, dass es auch mal Feuer regnet vom Himmel! Also versteckt euch tief in der Erde und wartet, bis der Kampf vorbei ist.“

Paba Ziko nickte und verschwand im Wald. Währenddessen streckte sich das Mutt, spannte und entspannte seine Flügel, schüttelte Kopf, Schwanz und Pranken so, dass der Wanderer alle Mühe hatte, an seinem Orte sitzen zu bleiben. Verzweifelt biss er sich auf die Lippen, presste seinen Körper gegen den Hals des Ungetüms und hielt sich, so gut es ging an Moos, Grasbüscheln und kleinen Sträuchern fest, die da wuchsen.

Als das Mutt zufrieden war mit seiner Beweglichkeit, brummte es ein kurzes „Gut! Jetzt halt dich gut fest, Junge“, legte die Ohren nach hinten, duckte sich und machte einen gigantischen Sprung. Der Wanderer wollte eigentlich entgegnen, dass er dies schon lange täte, doch er kam nicht dazu. Mitten im Sprung öffnete das Mutt die Flügel und brachte die beiden mit einigen kräftigen Schwüngen hoch über den Wald. Dort ging es in einen Segelflug über und kreiste einmal über dem Tal.

„Hui!“, rief der Wanderer verwundert aus. So hatte er die Welt noch nie gesehen. Die Bäume, die Felsen, ja der See – sie waren alle so klein wie Spielzeug. Und die Menschen erst – so klein wie Ameisen! Verdutzt guckten sie zu jenem Ungeheuer auf, welches so riesig und doch unerkannt in ihrem Wald gelebt hatte. Doch Paba Ziko liess ihnen keine Verschnaufpausen. Die anderen Leoparden hatte er schon benachrichtigt und jetzt sorgte er dafür, dass seine Menschen sicher in eine tiefe Höhle kamen.


„Juhu!“, rief der Wanderer, als das Mutt einen Sturzflug machte und aus dem Tal verschwand. Eine Weile flogen die beiden niedrig übers Land.

„Warum fliegst du nicht höher, damit ich nach Zerzas letzter Wille ausschauen kann?“, fragte der Wanderer.

„Nicht so ungeduldig, Junge! Noch weiss es wohl nicht, dass ich hier bin. Diesen Vorteil will ich nicht so einfach verspielen! Dort vorne ist ein hoher Berg. Von dort kannst du ausschauen.“

Sachte flog das Mutt an einer Flanke des Berges hoch – knapp über den Wipfeln der Bäume. Als es fast den Gipfel erreichte, landete es und hiess den Wanderer absteigen. Dieser stieg die letzten paar Meter weiter hoch, um sich oben umzuschauen. Im Westen war der Himmel ganz schwarz von Rauch und der Wanderer sah auch einen feuerspeienden Berg.

„Dort“, rief er dem Mutt zu, „dort beim feuerspeienden Berg wird Zerzas letzter Wille sicher zu finden sein!“

„Hast du es denn auch dort gesehen?“, fragte das Mutt.

„Nein…“

„Hm, dann lass uns hier noch länger Ausschau halten.“

Der Wanderer drehte sich und schaute angestrengt nach Osten, doch auch da war es nicht zu sehen.

„Junge!“, sagte das Mutt plötzlich.

„Was?“

„Komm zu mir zurück!“

„Was? Aber ich habe es noch gar nicht entdeckt!“, rief er und blickte angestrengt nach Süden.

„Komm jetzt, schnell!“

Der Wanderer verstand nicht, doch drehte er sich zum Mutt um. Da sah er aus dem Augenwinkel einen grossen, schwarzen Schatten auf ihn zufliegen. Der Schwanz des Mutt peitschte über seinen Kopf hinweg und fegte dadurch etwas zur Seite, was sich sonst wohl gerade auf ihn gestürzt hätte. Der Wanderer strauchelte vor Schreck und purzelte die paar Meter bis vor die Pranken des Mutt. Wie er sich aufraffte, sah er Zerzas letzter Wille in seiner ganzen abscheulichen Pracht auf der Spitze des Berges thronen.

„Es ist also wahr! Du bist hier, zottelköpfiger Verräter!“, donnerte es und schweflige Rauchwolken zischten aus seinen Nasenschlitzen.

„Welches Gift dir Pdha wohl verabreicht hat, dass du dich auf ihre Seite schlägst?“

„Klettere wieder an deinen Platz, Junge. Gleich geht’s rund!“, raunte das Mutt dem Wanderer zu, und während dieser wieder hinter dessen Kopf kletterte, entgegnete es laut:

„Pass auf, junger Schnaufer, oder ich zieh dir das Fell über die Ohren! Ich mag vielleicht alt sein, aber noch nicht senil!“

„Ach ja? Du wagst es, mir zu drohen? Wohl nur, weil du selber schon halb blind bist! Ich hoffe für dich, dass du noch nicht zu lahm wurdest!“

„Ich mag vielleicht nicht mehr so jugendlich und kräftig sein wie du, doch habe ich weit mehr Schlachten geschlagen, als du Tage zählst!“, sprach das Mutt, machte einen Satz und verpasste dem überraschten Zerzas letzter Wille mit der Pranke einen Hieb, dass es übers Tal in den nächsten Berg donnerte. Doch das Mutt liess ihm keine Pause und setzte dem Biest sofort nach. Dieses schüttelte kurz den Kopf und wich der nächsten Attacke des Mutts knapp aus. Gleichzeitig sah der Wanderer, wie drei der sieben stacheligen Schwänzen des anderen Ungeheuers auf das Mutt niedersausen wollten.

„Pass auf, von hinten!“, rief er laut. Das Mutt versuchte, mit einem Satz auszuweichen, wurde jedoch trotzdem getroffen und seinerseits durch die Luft geschleudert. Schnell spannte es die Flügel, erlangte mit einigen kräftigen Flügelschlägen wieder die Balance und segelte davon.

„Achtung, es verfolgt uns“, rief der Wanderer. Da eben zischte eine Feuerkugel an den beiden vorbei.

„Ist das alles?“, brummte das Mutt und stieg vertikal nach oben. Ganze vier Feuerbälle flogen an den beiden vorbei, doch alle viel zu tief.

„Warum fliegst du so hoch?“, rief der Wanderer, der sich verzweifelt am Hals des Monsters festklammerte.

„Weil dieses blöde Vieh Mühe hat, seine Feuerkügelchen nach oben zu spucken!“

Die beiden stiegen noch immer vertikal aufwärts.

„Aufgepasst!“, rief der Wanderer wieder, „ich glaube, es bereitet etwas vor!“

„Gut so!“, grinste das Mutt. In dem Moment spuckte Zerzas letzter Wille einen Feuerball, der grösser schien als das Monster selbst.

„Weich dem mal aus, alte Schachtel!“, keuchte es ausser Atem.

„Der Feuerball kommt!“, schrie der Wanderer mit vor Angst geweiteten Augen. Im letzten Moment machte das Mutt eine halsbrecherische Rolle über das Feuergeschoss hinweg und raste wie ein Pfeil auf das andere Monster zu. Überrascht über dieses Manöver, machte sich dieses auf den Aufprall bereit, doch das Mutt drehte sich im letzten Augenblick so um die eigene Achse, dass es am anderen Ungeheuer vorbeizischte. Verblüfft versuchte dieses, das Mutt noch mit einem seiner Schwänze zu treffen, doch die beiden waren schon ausser Reichweite.

„Was soll das!“, schrie es laut. Doch das Mutt guckte, dass es davon kam. Der gigantische Feuerball, welcher erst vertikal aufgestiegen war, hatte sich unterdessen schon wieder angeschickt, zurück zur Erde zu stürzen. Zerzas letzter Wille merkte zu spät, dass es dabei im Wege war. So traf es sein eigener Feuerball mit voller Wucht und es stürzte in einem grossen Flammenmeer zu Boden. Das Mutt hingegen landete wieder auf dem Berg, auf dem sie zuvor gewesen waren.

„Hm!“, brummte es, „ob ich es wohl noch kann?“

„Was denn?“

„Sterne regnen lassen!“, meinte das Mutt. „Zeige mir, wo genau Zerzas letzter Wille liegt!“

„Dort!“, sagte der Wanderer und drehte den Kopf des Mutts in die Richtung. Dieses breitete seine Flügel weit aus, hob eine Pranke und sprach Worte in einer Sprache, welche der Wanderer noch nie zuvor hörte. Sie schien weder Vokale noch Konsonanten zu haben und jedes Wort glich einem kleinen Erdbeben! Da fing der Himmel plötzlich Feuer und ehe man sich versah, prasselten feurige Geschosse in ungeheurer Wucht auf eben jene Stelle, auf welche der Wanderer gewiesen hatte. Was für ein Inferno! Über welche Macht doch das Mutt verfügte! Gedenke man nur der Schlachten, welche es schon geführt hatte, dachte der Wanderer bei sich. Schrecklich mussten diese Zeiten gewesen sein!

Zerzas letzter Wille wich den grössten Kometen aus, doch einige der kleineren verfehlten ihr Ziel nicht. So stand es, als das Inferno zu Ende kam, schwer atmend auf der anderen Seite des Tales – oder zumindest der Kraterlandschaft, die davon übrig blieb.

„Wer die Alten nicht ehrt, muss sich nicht beklagen, von diesen eins auf die Nase zu kriegen, Rotzlümmel!“, rief das Mutt. Zerzas letzter Wille schnaufte noch immer schwer. Ihm war die Lust nach frechen Sprüchen gehörig vergangen.

„Nicht schlecht“, japste es, „das war wirklich nicht von schlechten Eltern. Wie man’s wohl vom grossen Mutt nicht anders erwarten darf!“

Zerzas letzter Wille richtete sich wieder auf.

„Doch wie du über die Himmelsfeuer gebietest, gebiete ich über die der Unterwelt!“, sprach es und ein gewaltiges Donnern hob an. Das Mutt konnte gerade noch einen Sprung zur Seite machen, als der Berg, auf dem sie bis eben standen, regelrecht explodierte. Gaswolken schossen empor und drohten, die beiden zu ersticken, während glühende Lava- und Gesteinsbrocken auf sie niederprasselten und sie zu erschlagen oder versengen drohten. Zugleich wirbelte Asche umher, so dass der Wanderer kaum seine Augen offen, geschweige denn etwas sehen konnte!

„Das ist nicht gut!“, brummte das Mutt. Verzweifelt versuchte es, vom Vulkanausbruch fort zu kommen, doch ehe es sich versah, tauchte Zerzas letzter Wille wie aus dem Nichts auf und versetzte ihm Hiebe, denen es kaum ausweichen konnte. Zu guter Letzt peitschte Zerzas letzter Wille mit allen sieben Schwänzen gleichzeitig auf den Rücken des Mutt. Dieses stöhnte laut auf und fiel wie ein Stein aus der Aschewolke heraus. Was sich nun dem Wanderer zeigte, liess ihn erschaudern. War dies das liebliche Tal, durch welches sie angeflogen gekommen waren? Nun ergossen sich gewaltige Lavaströme über die Bergflanken.

„Pass auf, sonst stürzen wir in diesen grossen Lavastrom!“, rief er dem Mutt zu. Dieses versuchte den Fall zu beherrschen und gewann gerade im letzten Moment die Kontrolle über seine Flügel zurück. Knapp segelte es über den Lavastrom zu Tal. Der Strom war so heiss, dass einige der trockenen Moose am Körper des Ungetüms Feuer fingen!

„Nur weg hier!“, schnaubte es.

„Ich seh‘ Zerzas letzter Wille! Es ist fast über uns!“, rief der Wanderer. Der dunkle Schatten über ihnen wurde plötzlich erleuchtet.

„Achtung, es speit!“

Das Mutt konnte gerade noch einen Haken schlagen und so der Feuerkugel ausweichen. Geschickt segelte es an einer Bergflanke empor, welche ihrerseits ebenso in einer riesigen Feuersäule explodierte. Der Wanderer versuchte krampfhaft, Zerzas letzter Wille auszumachen, doch er hatte es aus den Augen verloren. Wieder prasselten glühend heisse Gesteinsbrocken auf die zwei nieder.

„Hmpf. Uns bleibt keine Wahl, da müssen wir durch!“, brummte das Mutt verdrossen und schoss mit einigen kräftigen Schlägen seiner Schwingen in die nächste Aschewolke. Gerade wie sie hineinflogen, sah der Wanderer Zerzas letzter Wille von hinten anfliegen.

„Achtung, von hinten!“, schrie er laut. Das Mutt flog einen Bogen – gerade rechtzeitig, denn ein schwarzer Schatten schoss an den beiden vorbei. Je höher das Mutt in der Aschewolke stieg, desto leichter fiel den beiden auch das Atmen wieder.

„Hm, Wasserdampf!“, brummte es auf einmal.

Plötzlich zuckte ein Blitz an den beiden vorbei.

„Aufgepasst, hier gibt’s Blitze!“, rief der Wanderer verzweifelt und erschrocken.

„In der Tat“, entgegnete das Ungetüm trocken und grimmig, „Schau du nur nach dem Biest aus, die Blitze sind mein Tun!“

So schaute der Wanderer angestrengt in die Schwaden. Oben? Nichts! Rechts? Nichts! Hinten? Nichts! Links? Auch nichts! Da wurde das Mutt heftig erschüttert und es stöhnte wieder laut auf. Zerzas letzter Wille kam, die Krallen voraus, von unten! Doch ehe es sich versah, da hatte das Mutt es auch schon mit seinen Pranken gepackt und hielt es fest.

„Hmpf, lass los!“, zeterte das Vieh.

„Oh nein, jetzt hab ich dich genau da, wo ich dich haben will!“, sprach das Mutt finster, während es um die drei unheimlich zu knistern begann. Dem Wanderer stellten sich alle Haare am Körper auf. Da machte das Mutt eine ruckartige Bewegung mit seinem Kopf, so dass er weggeschleudert wurde. Gerade als der Wanderer in den Schwaden verschwand, sah er unzählige blauweiss leuchtende Blitze Zerzas letzter Wille wie Schwerthiebe treffen.


Der Wanderer fiel im freien Fall der Erde zu. Nun ist es aus, dachte er. Doch er lächelte. Diese Blitze würde Zerzas letzter Wille bestimmt nicht überleben! Die Erde war gerettet! Soeben fiel er zu den Wolken hinaus. Schon konnte er den Boden schnell immer näher kommen sehen, da schoss noch etwas anderes hinter ihm aus den Wolken heraus. Das Mutt!

„Junge!“, schrie es laut, „wo bist du!“

„Hier!“

„Halt dich fest!“

Der Wanderer versuchte, irgendeinen Halt zu finden, als das Monster an ihm vorbeischnellte. Doch alles glitt ihm durch die Hände. Er gab die Hoffnung schon fast auf, da erfassten seine Finger ein angesengtes Bäumchen. Das Mutt breitete seine Flügel aus und bretterte knapp über dem Boden dahin. Hinter den beiden prallte Zerzas letzter Wille mit solcher Wucht auf einen Berg, dass es diesen spaltete.

Schwer atmend stabilisierte das Mutt den Flug, so dass der Wanderer wieder an seine Stelle klettern konnte. Rechterhand spuckten die Berge noch immer Feuer, doch blies der Wind nun die Aschenwolken in die andere Richtung.

So flogen die beiden zum Berg, wo Zerzas letzter Wille aufgeprallt war. Es lag schon halb verendet in einem grossen Trümmerhaufen.

„Na schön“, keuchte es und ein bläuliches Rinnsal floss ihm aus dem Mund, „du hast mich besiegt. Und doch hast du verloren! Denn Zerzas Kräfte sind geweckt – in Pdhas Garten wie auch in deren Bewohnern. Mögen sie zu Ende bringen, was ich nicht geschafft!“

„Armer Tor“, entgegnete das Mutt, „dies war doch von Anfang an Pdhas Plan. Es ist nun an ihren Geschöpfen, ihre Kraft mit der Zerzas in ein Gleichgewicht zu bringen und dabei zu lernen, wahre Götter zu werden!“

Und mit diesen Worten packte das Mutt Zerzas letzter Wille an einem der Schwänze und schleuderte es mit aller Kraft weit hinaus ins Meer, wo es dann endgültig verging.

„Lass uns heimkehren“, schnaufte das Mutt. Mühselig schwang es sich wieder in die Lüfte. Alles tat ihm weh. Den Anweisungen des Wanderers folgend, fanden die beiden schliesslich zurück zu jenem See im bewaldeten Tal. Dort liess es sich in die Mitte des Wassers plumpsen und sprach:

„Hier geht nun mein Flug zu Ende! Jetzt mag ich schlafen. Lange, lange und tief schlafen.“ Und mit diesen Worten schloss es die Augen.

Der Wanderer streichelte zärtlich und dankbar den Kopf des Ungetüms, das so tapfer für Pdhas Garten gekämpft und sie alle gerettet hatte. Währenddessen bemächtigte sich die Natur wieder des Körpers jenes Monsters, so dass es bald erneut einer felsigen Insel glich. Und noch heute sollte dieser Fels in jenem See den Bewohnern von Pdhas Garten als eine wichtige Stätte gelten. Und mächtige Tempel wurden dort gebaut und noch mächtigere Paläste. Es ward dies das Zentrum einer jeden aufrechten Zivilisation! Doch da, wo der Kadaver von Zerzas letzter Wille eine kleine Insel im Meer bildete, da erhob sich später jene fürchterliche Burg Sukulaku – die Burg der schwarzen Monstermagier! Und auch wenn der vierte Drachensturm eben jenem Orte galt und sie dem Erdboden gleich machte, so munkelt man, gehe noch heute Unheiliges in den tiefen Stollen unter der Ruine vor sich. Doch dies sind andere Geschichten.


Dem Wanderer seinerseits sollte ein langes und ruhmreiches Leben noch bevorstehen. Als der Junge, der das Mutt ritt, wurde er zum rechtmässigen König aller Bewohner von Pdhas Garten gewählt. Und seine Herrschaft war gut und weise. Nun, böse Zungen behaupten heute ja, dass er wohl nicht nur der erste rechtmässige König war, sondern und vor allem auch der letzte. Aber auch das sind andere Geschichten…


So geht nun diese Erzählung zu Ende, die vom Muttstern, dem König aller Sterne. Und wer diesem Sterne folgt, der möge nicht irren!

Doch wohin gelangen wir denn, wenn wir ihm folgen? Da wandeln wir mit besten Absichten und achtsam, um nicht zu irren, diesem Sterne nach und kommen doch vor niemand geringeren als den König aller bösen Ungetüme, auch bekannt als das steinerne Monster – das uns empfängt mit seinem feurigen Höllenblick. Hätten wir uns doch besser einmal geirrt! Oder etwa nicht? Wer ist denn dieses Ungeheuer und was tut es da? Ist es ein Hochstapler, eines, das, um seinen königlichen Anspruch zu rechtfertigen, sich eben unter den Königsstern stellte, oder aber ist es berechtigt dort? Weil es etwa weiterführen will, was das Mutt begonnen – wissend, dass die Fussstapfen, in die es tritt, gigantisch sind?

Das sind die Geschichten, die hier weitererzählt werden wollen.


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