Der weisse Schatten

„...technische Störung an einem anderen Zug. Für die Unannehmlichkeiten bitten wir sie um Entschuldigung“, knatterte die generierte Stimme aus dem SBB-Lautsprecher. Entnervt seufzte ich auf und hob meinen Blick vom Buch um die stehen gebliebene Landschaft vor dem Waggonfenster zu betrachten. Es zeigte sich mir irgendein Stück ödes Kulturland zwischen Solothurn und Olten. Und ja, wir bewegten uns keinen Meter.

„Ein eigenartiges Gefühl, nicht weiter zu kommen, obschon alles vorhanden zu sein scheint, nicht?“

Der Mann diagonal gegenüber am Fenster lächelte mir zu. Er hatte ebenso von seinem Buch aufgeschaut.

„Ja-a“, machte ich ausweichend. Ich hatte nicht sonderlich Lust in ein ‘wir-sitzen-nun-alle-im-selben-Boot-drum-lass-uns-jetzt-sozialisieren’ Gespräch verwickelt zu werden. Der Mann machte jedoch seinerseits keine Anstalten, auf einer Unterhaltung zu beharren. Er begann ebenso die Landschaft zu mustern, doch schien es mir, tat er dies ungleich intensiver als ich. Er klebte förmlich an der Scheibe. Was mir die Gelegenheit gab, ihn etwas gründlicher zu betrachten. Am Auffallendsten war sein mittellanges, gerade abfallendes und schneeweisses Haar. Dazu hatte er einen sauber getrimmten, pechschwarzen Bart, der ihm jedoch etwas fremdländisches verlieh. Er trug ein pastellblaues Hemd, welches säuberlich in eine braune Manchesterhose gestossen war. Ersteres spannte sich nun beträchtlich, wie er sich zum Fenster beugte. Ein grell auberginefarbener Gurt markierte den Übergang der Hose zum Hemd, welche sonst farblich hätten zusammen gehen können. Aber so biss es sich in Nuancen, fand ich. Und da fiel mir noch etwas anders auf, was mich jedoch sofort in den Bann zog. Der projektierte Schatten des Mannes auf der Sitzgruppe war weiss!


Verblüfft starrte ich auf den vor mir befindlichen Schatten. Tatsächlich, er schien heller zu sein, als die umliegenden, vom diffusen Licht beschienenen Flächen. Rasch guckte ich zum gegenüberliegenden Ab-teil. Die dortigen Schatten waren normal. Mein Buch zur Seite legend und so tun, als würde ich mich strecken, stand ich auf. Auch in den Abteilen hinter uns hatten alle normale, schwarze Schatten. Nur der vor mir blieb weiss.

Unterdessen hatte sich mein Abteilmitinsasse wieder vom Fenster gelöst und seine vorherige Position eingenommen.

„Do-sto-jev-ski“, entzifferte er laut die Beschriftung meines Buches, welches ihm gegenüber auf dem Sitz lag, jedoch auf dem Kopf für ihn, „der I-di-ot“

„Ich wusste nicht, dass die heutigen, jungen Menschen solche Klassiker mögen“, meinte er dann freundlich zu mir, als ich mich wieder gesetzt hatte.

„Ich muss es für die Schule lesen“, wich ich gleichgültig aus. Er hob verwundert seine vollen, schwarzen Augsbrauen.

„Ich bin zweifelsohne nicht sonderlich talentiert, das Alter junger Frauen korrekt einzuschätzen! Sie... gehen noch zur Schule?“

„Berufsmatur“, lächelte ich. Wobei sein Alter auch nicht gerade einfach zu bestimmen war. Als ich zu ihm ins Abteil sass, schätze ich ihn als älterer Herr ein – wohl aufgrund der weissen Haare – doch nun, als ich in sein Gesicht sah, konnte er unmöglich über 40ig sein.

„Dann haben sie eine Lehre absolviert?“

Ich nickte, ohne weiter darauf ein zu gehen. Doch er blieb hartnäckig.

„Welche denn?“

Sein Gesicht schien förmlich vor Neugierde zu platzen, also gab ich mir einen Ruck.

„Vermessungszeichnerin“

Er nickte beeindruckt. Ein sehr technischer Beruf, stellte er fest. Was ich denn an einer Hochschule oder Uni studieren wolle? Ich sagte ihm, Umweltwissenschaften wäre wohl das Beste für mich. An ein Bauingenieurstudium würde ich mich nicht wirklich trauen, da so Mathematik lastig.

„I wo!“, lachte der Mann, „welcher Bauingenieur rechnet heute noch selbst? Im Ernst, die ganze Mathematik im Studium dient doch nur dazu, dass sie später wissen, was ihre Rechner machen. Auch gut so, dann bleibt mehr Raum für Intuition. Diese ist für die Statik nicht zu unterschätzen, wenn wirklich Innovation gefragt ist! Also, keine falsche Schüchternheit; werden sie Bauingenieurin.“

„Ich weiss nicht“, sagte ich. Dabei fiel mein Blick auf sein Buch, welches allerdings so auf dem Sitz vor mir lag, dass der Titel nicht ersichtlich war.

„Was lesen denn sie?“, fragte ich herausfordernd. Dem leuchtend pinkroten Softcover mit einem Grasgrünen Steifen am Rand zufolge vermutete ich einen Indi-Roman. Zu meinem Erstaunen lass ich jedoch „Goethe, Farbenlehre, Didaktischer Teil“ auf dem Cover, das er mir nun zeigte. Ich nickte etwas eingeschüchtert.

„Lässt sich das lesen?“

„Offensichtlich“

„Und... ist es gut?“

„Grossartig!“, strahlte der Mann. Dann legte er sanft sein Buch wieder neben sich auf den Sitz. Ich schwieg und mein Blick wanderte wieder zu seinem Schatten, der noch immer weiss war.


„Wenn ich eine Romanfigur zu sein hätte“, nahm er plötzlich das Gespräch wieder auf, „dann wäre ich wohl Fürst Myschkin aus ihrem Dostojevskibuch.“

„Aber“, wand ich ein, „das ist doch der Idiot?“

„Ist er denn wirklich einer, oder halten ihn nur die anderen dafür?“

„Naja...“, sprach ich ausgedehnt, während mein Blick nun schon die ganze Zeit am weissen Schatten hing. Dann schwieg ich allerdings, wohl auffallend lange.

„Was haben sie denn?“, fragte er und schielte argwöhnisch über seine rechte Schulter.

„Ein optisches Phänomen – sie werfen gerade einen eigenartigen, weissen Schatten.“

„Aha?“, lächelte mein Gegenüber, „sie sind sehr aufmerksam.“

Ich verstand nicht recht. Doch war es mir plötzlich etwa peinlich, warum ich mich entschloss, in die Offensive zu gehen.

„Also schön Herr Myschkin...“

„Fürst, wenn ich bitten darf“, fiel er mir schlagfertig ins Wort.

„Herr Fürst Myschkin...“

„Fürst genügt vollends“

„Was machen denn ihre Hochwürden in ihrem Leben?“

„Als Fürst selbstverständlich nichts... aber ansonsten bin ich Magier.“

„So?“, dachte ich laut, „Sie treten also auf?“

„Ich tue was?“ Er blinzelte verwirrt.

„Naja, auf Partys oder vielleicht auch im Theater? Haben sie eine eigene Show?“

„Party? Theater? Show?“, sprach er mir nach, doch dann begriff er. „Nein, nein, nein, meine Dame, das sehen sie vollkommen falsch. Die sogenannten Magier, die sie offenkundig meinen und zu denen sie mich unglücklicherweise auch gerade dazu gezählt haben, sind keine. Es sind Künstler. Artisten. Was sie tun hat mit Magie – soweit ich das beurteilen kann – nichts zu tun.“

Ich guckte ihn etwas ratlos an. Also versuchte er sich zu erklären.

„Ich... die Magie... Wie sage ich das bloss...“

Der selbstproklamierte Fürst Myschkin atmete einmal hörbar durch.

„Es ist heutzutage furchtbar schwer geworden, den Mitmenschen zu vermitteln, was ein echter Magier ist. So viele Vorurteile... und dann eine ungeheure Ignoranz! Dass wir mit Schlapphüten und Magierstab herumlaufen müssten, ist noch eines der schmeichelhafteren Vorurteile. Und dass es sich bei der Magie höchstens noch um entweder technische oder psychologische Pfuscherei handele...“

Mein Gegenüber seufzte erneut. Ich hielt ihn Anfangs für einen schrulligen Intellektuellen, doch nun wurde ich mir zunehmend unsicher. Verarschte er mich – oder war er am Ende ein Spinner?

„Sehen sie“, sprach er mich direkt und ernst an, „das Wesentlichste der Magie, wie ich sie betreibe, könnte man das Ergründen des eigenen Schattens nennen. Es ist natürlich eine Alliteration – ein Bild – aber nicht nur! Wer seinen Schatten kennt, kann ihn auch entsprechend handhaben.“

„Ihr Schatten...“, begann ich unwillkürlich.

„...ist grün geworden“, beendete er umgehend meinen Satz und fuhr weiter, als wäre nichts dabei.

„Sie haben Recht, es ist ein optisches Phänomen. Physik und Magie sind nicht kontraindiziert. Nur weil es den heutigen Physikern beliebt, die Magie aus ihrer Physik auszuschliessen, heisst das nicht, dass die Magie die Physik ausschliesst. Im Grunde gelingt es den Physikern zunehmend schlecht und schlechter – gelinde gesagt – ihre Physik von der Magie abzugrenzen. Charmed particles – was für eine Scharlatanerie! Aber lassen wir das.“

Unterdessen hatte der Schatten meines Gegenüber einen rötlichen Farbton angenommen. Ich ertappte mich dabei, wie ich mich krampfhaft gegen die Sitzlehne presste. Der Magier blickte mich jedoch einen Moment schweigsam mit lieben Augen an, so dass ich mich wieder etwas entspannte. Auch sein Schatten wechselte über Violett zu Blau. Es lag etwas geradezu Melancholisches in seinen Augen, als er seine Rede wieder aufnahm.

„Man ist nicht sonderlich gefährlich mit einem farbwechselnden Schatten. So als Magier, meine ich. Das ist auch noch keine Magie. Das ergründen des Schattens dient dem Verständnis der Magie – im Grunde Selbstverständnis. So kommt man denn zu seinen Farben. Grün wie die erquickende Zuversicht der Morgensonne, Rot wie der gerechte Zorn der Abendsonne, Blau wie die weisheitsvolle Ruhe der Mittnachtsonne. Alle drei Verdunkelungen vom Weissen. Ein optisches Phänomen.“ Der Magier lächelte während seine Finger kurz auf Goethes Farbenlehre trommelten.

„Sie sind also ein echter Magier“, stellte ich zögerlich fest. Mir kam das Ganze noch immer sehr verrückt vor. Er nickte freundlich. Ein kurzer Moment herrschte sowas wie eine peinliche Stille.

„Erm, ... wie verdienen sie ihren Lebendunterhalt, wenn ich fragen darf?“

„Die Sache mit dem Geld“, schmunzelte der selbstproklamierte Fürst, „ich lebe vom Erbe meiner Grossmutter. Es ist zwar nicht viel, doch es genügt.“

„Also ist wahre Magie nicht gerade ein zu empfehlender Erwerbszweig, weil eine brotlose Branche?“

„Das hätte ich so nicht gesagt. Es gibt welche, die mit ihrer Magie schon sehr reich geworden sind – unanständig reich! ... wenn sie verstehen?“

Ich verstand überhaupt nicht.

„Gewisse Wendungen in der Geschichte der Menschheit sind nicht unbedingt so spontan und zufällig erfolgt, wie es ihnen im Geschichtsunterricht beigebracht wurde. Ich will jetzt hier nicht als Verschwörungstheoretiker gelten, darum auch keine konkreten Beispiele. Kommt noch hinzu, dass es für Nicht-Magier zuweilen nicht einfach ist, diese Dinge ganz zu durchschauen, geschweige denn überhaupt akkurat nach zu weisen. Ja, wer als Magier nicht ganz blöd ist, mit Geld umzugehen weiss und vor allem auch weiss, was er will...“

Der Magier machte eine nachdenkliche Pause. Dann fuhr er in einem Ton fort, der mich fröstelte. „Es gibt Magier, die können furchtbar stark wollen. So stark, dass es plötzlich Menschen gibt, die genau das tun, was dieser will. Einfach so – er braucht niemanden zu instruieren oder überhaupt von seinem Willen zu sprechen...“ Der Magier verstummte in seine Nachdenklichkeit. „...nicht meine Freunde...“, murmelte er leise vor sich hin um sich dann mit aufgesetzter Freundlichkeit wieder mir zu zuwenden:

„Aber es gibt auch andere. Welche, die nicht nur selbstsüchtige Ziele verfolgen. Man kann solche Wil-lensfähigkeiten auch ganz anders einsetzten. Und dann gibt es zum Beispiel spontane Schülerproteste für die Umwelt.“

„Ich denke, das tun wir freiwillig“, entgegnete ich sofort bestimmt. Der Magier lächelte süffisant.

„Natürlich“

Seine Anmassung ging mir gerade heftigst auf den Keks.

„Ihr denkt also, wir wären eine ferngesteuerte, willenlose Masse, die von Schattenmännern hypnotisiert jeden Freitag die Schule schwänzen?!“

„Nein, das habe ich so nicht gesagt. Ich meine bloss, dass Sie den Begriff Freiwilligkeit vollkommen missverstehen. In der Magiersprache – wobei dies auch für Nichtmagier gilt, selbst wenn sie es wie in ihrem Fall, nicht wissen – bedeutet Freiwilligkeit, dass es nicht der eigene Wille ist, sondern ein anderer. Sein eigener Wille ist frei; Ein anderer kann ihn besetzten.“

Ich blickte Fürst Myschkin noch immer feindselig an. Ihm war das offensichtlich eher unangenehm.

„Sie müssen verstehen, das ist keine schlechte Sache. Unsere ganze Kultur wäre undenkbar ohne die Bereitschaft der Menschen, auch mal einen anderen Willen gelten zu lassen, nicht nur der eigene. Und es gibt einen riesigen Unterschied zwischen Freiwilligkeit und Willenlosigkeit. Die Freiwilligen nehmen ihren Willen aktiv zurück, die Willenlosen werden einfach besetzt. ...das ist doch ein Unterschied, finden sie nicht auch?“

Also gut, ich versöhnte mich wieder etwas mit dem Fürsten. Wir musterten uns einen Moment schweigsam. Dann nahm es mich denn doch Wunder.

„Stecken sie dahinter?“

„Ich? Nein! Nein, Nein“, stritt der Magier sofort alles ab, „ich zaubere nicht mit Willensmagie. Und überhaupt, wenn ich es täte, ich würde es ihnen ganz bestimmt nicht sagen.“ Der selbstproklamierte Fürst Myschkin lächelte verschmitzt. „Diskretion ist das A und O in der Magie.“

„Was für Magie benutzen sie denn?“, fragte ich, neugierig geworden. Unterdessen hatte sich der Zug schon lange wieder in Bewegung gesetzt.

„Ich beschäftige mich mit der hohen Kunst, Gedanken zu erschaffen“, sprach der Magier feierlich und wichtig.

„Das tönt sehr philosophisch“, meinte ich diplomatisch.

„Oh nein! Ich rede nicht von toten, abstrakten Vorstellungsmodellen. Nein, Gedanken sind das Leben selbst. Alles in dieser Welt beruht auf Gedanken!“

Ich mochte nicht das Pathos, mit dem Fürst Myschkin dies vorbrachte mit meiner Skepsis stören, auch wenn sich mir gerade gegen seine letzte Aussage unwillkürlich Widerspruch erhob. Auf jeden Fall, darüber hatte wohl auch ich mal noch länger nachzudenken.

„Willensmagie hat einen grossen Nachteil“, fuhr der Magier fort, während sein Schatten geradezu blau leuchtete, „denn Willen mag ja nach Belieben stark sein. Was man ja sehr gut an den Schülerprotesten ersehen kann.“ Der Magier gab mir einen versöhnlichen Wink. Ich nickte zögerlich aber einwilligend. „Aber Inhalte, Lösungen. Das bringt Willensmagie nicht! Deshalb ist eure Bewegung da auch so schwach auf den Beinen.“

„Das würde ich so nicht sagen“, hackte ich sofort ein und wollte gerade zu einem längeren Referat über CO2 und dessen Reduktionsmöglichkeiten ansetzten. Doch der Magier brach meine Rede umgehend zum Stillstand.

„Gute Frau, all das, was sie mir gerade erzählen wollen, kenne ich zur Genüge. Ich habe mich weiss Gott tief ins Thema eingelesen. Darum weiss ich auch, dass alles, was bisher vorgebracht wurde als Lösungsansätze, aus der gleichen Denke – aus denselben Gedanken! – welche uns überhaupt in diese Miesere geritten haben, stammt. Das sind keine echten Lösungen. Daher werden auch nie echte kommen. Glauben sie mir, ich weiss, wovon ich rede. Ich kenne die Welt der Gedanken!“

Sein Schatten hatte ein tiefes Blau angenommen.

„Seht nur, wo nimmt denn die Umweltverschmutzung wirklich ihren Anfang. Im CO2 Ausstoss?“ Der Magier schüttelte den Kopf. „Das ist bloss ein grobes Symptom. Das ist nicht die erste Ursache. Es beginnt in unserem Kopf. Es beginnt, wie wir uns in der Welt sehen und denken. Es beginnt mit den Gedanken, die uns bestimmen! Es ist ein Menschenproblem. Der Mensch ist das Problem. Wir sind das Problem.“ Er machte eine Atempause, nur um leiser, als würde er zu sich sprechen, weiter zu fahren. „Ist es nicht nett, all diese Wissenschaftler, die euch unterstützen... Sogar Physiker... aber in ihrer Physik gibt es keinen Menschen! All die ganze Wissenschaft tut so, als gäbe es keinen Menschen. Und genau deshalb sitzen wir nun überhaupt in der Tinte! Weil die Physik nicht diese Physik ist!“

Dabei pochte der Magier mit seinem Zeigefinger heftig auf Goethes Farbenlehre. Sein Schatten war in seiner Erregtheit schon lange wiederum Rot geworden. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, noch dass ich verstanden hätte, was er wirklich meinte. Im Grunde weiss ich es noch heute nicht. Wir erreichten leider in diesem Moment gerade Olten und ich hatte auszusteigen. Also verabschiedete ich mich.

„Ändert euren Sinn!“, gab mir in Grün Fürst Myschkin beim Abschied mit auf den Weg. Ändert euren Sinn.

Der weisse Schatten